„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Für uns alle, die wir heute im Familien- und Freundeskreis den Silvesterabend feiern, ist das ein Ausdruck der Hoffnung, der Zuversicht, der Freude am Leben. Es geht uns trotz aller Sorgen gut. Wir leben in Frieden. Wir leben in einem freien Land.
Das ist nicht selbstverständlich, und das war auch nicht immer so.
In diesen Stunden stehen wir an der Schwelle zum Jahr 1985. In wenigen Monaten, am 8. Mai, werden wir uns des Tages erinnern, an dem vor 40 Jahren der Zweite Weltkrieg endete. Wir werden uns an diesem Tag in Trauer und Selbstbesinnung an die Opfer eines verbrecherischen Regimes erinnern: an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in den Gefängnissen und Vernichtungslagern des Dritten Reiches, an das Leid und den Tod der Gefallenen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges, an die Not und das Elend der Vertriebenen und Flüchtlinge und an die Leiden der Männer, Frauen und Kinder in den zerstörten Städten und Dörfern in der Heimat.
Damals in der Stunde Null deutscher Geschichte lag unser Land in Trümmern. Und dennoch haben unzählige Männer und Frauen in jenen schweren Jahren einen neuen Anfang gewagt. Sie haben zugepackt. Mit Mut und Fleiß, im Glauben an die eigene Kraft und im Vertrauen auf eine bessere Zukunft. Diese Generation hat unsere Bundesrepublik Deutschland geschaffen, sie hat die Lehre aus der Geschichte gezogen. Unser demokratischer und sozialer Rechtsstaat, unser Wohlstand, unser Ansehen in der Welt sind ihr Werk. Es waren in der Generation unserer Mütter vor allem viele Frauen, die ganz Außerordentliches geleistet haben.
Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 wird, ja muß unsere Nachdenklichkeit herausfordern.
Heute, 40 Jahre danach, sollte sie uns Anlaß sein, jenen zu danken, die im Angesicht der Katastrophe ihr „dennoch“ sagten und einen Lebensmut bewiesen, der uns Beispiel und Vorbild ist.
Gewiß - auch unsere Zukunft stellt uns vor große Herausforderungen. Sorge bereitet uns das Schicksal von über 2 Millionen Arbeitslosen. Wir sorgen uns um die Belastung unserer Umwelt, insbesondere um unsere Wälder, und in einer Welt voller Waffen und Konflikte müssen wir besorgt sein um den Frieden und um die Freiheit unseres Landes.
Gleichwohl gibt es keinen Grund für jenen trostlosen Pessimismus, der von manchen auch jetzt wieder verbreitet wird. Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Der Mut, an eine bessere Zukunft zu glauben, wächst aus der Kraft, sich mit der Welt zu versöhnen, in der wir leben.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, 1984 war alles in allem ein gutes und in einigen Bereichen sogar ein besonders erfolgreiches Jahr. So kann ich heute eine positive Bilanz ziehen für die Außenpolitik ebenso wie für die wichtigsten Felder der Innenpolitik.
Das bedeutendste Ergebnis der Außen- und Sicherheitspolitik ist, daß die Gespräche zwischen Ost und West auch nach unserer Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluß nicht abgebrochen wurden. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihre klare Haltung in dieser Frage an Ansehen und Gewicht gewonnen. Gerade wir Deutsche haben unseren Beitrag zum Fortgang der Gespräche geleistet und für die Wiederaufnahme der Abrüstungsverhandlungen geworben.
Inzwischen hat sich der von uns eingeschlagene Weg als richtig erwiesen.
Schon in wenigen Tagen werden sich die beiden Weltmächte in Genf wieder zu ernsthaften Gesprächen über Fragen der Rüstungsbegrenzung und der Abrüstung treffen.
Ich bin zuversichtlich, daß diese Verhandlungen uns unserem Ziel näher bringen: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.
Gestärkt durch unsere klare Haltung in der Außen- und Sicherheitspolitik konnten wir unsere Gespräche und Verhandlungen mit der DDR fortsetzen.
Ihr erfreulichstes Ergebnis ist, daß in diesem Jahr fast 40.000 unserer Landsleute aus der DDR zu uns übersiedeln konnten. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, sie bei uns aufzunehmen.
Trotz mancher Schwierigkeiten sind wir auch in den europäischen Angelegenheiten ein gutes Stück weitergekommen. Der Abbau von Grenzkontrollen an unseren Westgrenzen ist dabei mehr als nur ein Symbol. Wir sind gemeinsam mit unseren französischen Freunden fest entschlossen, der Idee der europäischen Einigung im kommenden Jahr einen neuen, entscheidenden Impuls zu geben.
Gerade für uns Deutsche gibt es keine Alternative zur politischen Einigung Europas. Die Bundesrepublik Deutschland ist Teil des Westens und muß es bleiben.
Positive Entwicklungen beobachten wir aber auch in anderen Teilen der Welt.
Der Aufschwung in den USA hat vor allem unserer exportorientierten Wirtschaft zur richtigen Zeit einen wichtigen Impuls gegeben.
Wir haben diese Chance nutzen können, weil wir auch im nationalen Bereich zu einer Kraftanstrengung fähig waren.
Wir leben nicht mehr über unsere Verhältnisse. Die Konsolidierung des Staatshaushaltes macht Fortschritte. Wir haben endlich wieder Preisstabilität. Arbeitnehmer und Sparer erzielen wieder reale Einkommenszuwächse. Das Wirtschaftswachstum hat sich deutlich belebt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaflichen Entwicklung sieht die Chance für einen langen Aufschwung.
Viele Unternehmen erzielen wieder bessere Erträge. Sie können deshalb investieren, sie konnten Kurzarbeit abbauen und auch bereits wieder neue Arbeitsplätze schaffen.
So ist es gelungen, den noch vor zwei Jahren scheinbar unaufhaltsamen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen. Noch sind wir nicht über den Berg. Aber wenn wir den Kurs der Vernunft halten, haben wir eine gute Chance, dieses uns alle bedrückende Problem zu lösen.
Zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen haben wir in kurzer Frist für die drei wichtigsten Quellen der Umweltbelastung - für Kraftwerke, Industrieanlagen und für die Autos - die notwendigen Entscheidungen getroffen.
Ich bin zuversichtlich, daß es uns gelingt, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. Denn wenn wir unseren Rang als eine der führenden Industrienationen behaupten wollen, dann geht es beim Umweltschutz immer auch um die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen.
Zu den besten Ergebnissen des jetzt zu Ende gehenden Jahres gehört der große Erfolg bei der Bereitstellung von über 740.000 Ausbildungsplätzen. Allen, die in praktischer Solidarität mit der jungen Generation dazu ihren Beitrag geleistet haben, möchte ich meinen Dank sagen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es geht wieder aufwärts in unserem Land. In vielen Bereichen ist zu spüren, daß die Deutschen die Herausforderungen unserer Zeit mit neuem Mut und neuem Selbstvertrauen angenommen haben. Auf die Frage, ob sie dem neuen Jahr mit Hoffnungen oder mit Befürchtungen entgegensehen, haben in diesen Tagen 55 Prozent der Befragten geantwortet: Mit Hoffnung. So positiv haben sich die Menschen seit vielen Jahren nicht mehr geäußert.
Unsere Zuversicht ist nicht blind für die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Auch nicht für die Not, die uns umgibt. Die Bereitschaft, anderen zu helfen, ist groß - gerade auch bei jungen Menschen, von denen sich gegenwärtig viele in der Hungerhilfe für Äthiopien engagieren.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und ich wende mich hier auch an unsere ausländischen Mitbürger: Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein friedvolles und ein glückliches Jahr 1985.
Ich grüße unsere Landsleute in der DDR.
Ich wünsche uns Gottes Segen für unser deutsches Vaterland.“