329 Tage vergingen zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. In diesem Zeitraum wurde die Welt neu geordnet. Mitten drin: Horst Teltschik. Er hat diese entscheidende Phase mitgestaltet und darüber Tagebuch geführt. 18 Jahre lang war er der außen- und sicherheitspolitische Berater Helmut Kohls, mit nahezu unbegrenztem Zugang zum Bundeskanzler. Auf rund 1.000 Seiten, herausgegeben von dem Historiker Michael Gehler, legt der heute 84-jährige Teltschik nun eine Neuauflage seines Tagebuchs aus der Zeit der Wiedervereinigung vor. Dieses wurde mit zuvor unveröffentlichten Einträgen, Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken ergänzt. Die Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung hat dies zum Anlass genommen, um zusammen mit dem Institut für Zeitgeschichte zu einem wissenschaftlichen Kolloquium nach Berlin einzuladen, das von Jacqueline Boysen und Hermann Wentker moderiert wurde.
Zu Beginn des Kolloquiums schilderte Horst Teltschik die Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Helmut Kohl: „Es ging immer darum, Helmut Kohl zu helfen“, so Horst Teltschik. „Er konnte stur sein, hat aber zugehört und ich erlaubte mir auch, wenn ich es für nötig hielt, ihm zu widersprechen“, berichtet Teltschik zur Arbeitsatmosphäre. Es habe zwischen beiden ein absolutes Vertrauensverhältnis getragen von höchster gegenseitiger Wertschätzung geherrscht. Tagebuch führte Teltschik zur Ergebnissicherung seiner zum Teil geheimen politischen Unterredungen.
Der österreichische Geschichtswissenschaftler Michael Gehler lieferte einen Werkstattbericht zur Entstehung der Neuauflage. Das Buch war bereits in der ursprünglichen Fassung eine wertvolle Quelle und sei durch neue Sach- und Personenregister nun noch besser zugänglich. Dazu gekommen sind zudem von Teltschik verfasste, kurze Biografien zu den handelnden Personen. Das Werk biete die Besonderheit, durch die Perspektive Teltschiks festzustellen „an welchen Stellschrauben der Einigung Helmut Kohl drehen konnte“. So wird aus dessen Aufzeichnungen deutlich, wie der Versuch abgewehrt wurde, aus Helmut Kohls berühmten „10-Punkte-Programm“ die Formulierung „Wiedergewinnung der staatlichen Einheit“ zu streichen oder was die Regierung Kohl unternahm, um Gorbatschow angesichts der desolaten Wirtschaftslage der Sowjetunion seines Landes zu helfen. „Diese Blicke in den Maschinenraum der Politik sind Goldstücke für den Forschungsgegenstand Deutsche Einheit“, ist sich Michael Gehler sicher.
Unter den Teilnehmern wurde über das Tagebuch als subjektive Quelle diskutiert, über das Verhältnis der ex-post- Betrachtung und der authentischen Aufzeichnung und wo deren Stärken liegen. Ausführlich wurden die Absprachen des Jahres 1990 zwischen den USA, der Bundesregierung und der Sowjetunion hinsichtlich einer Ausdehnung der NATO Richtung Osten besprochen. Auch die Gründe für die Eintrübung des Verhältnisses zwischen Helmut Kohl und seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher in jener entscheidenden Phase waren Gegenstand eines lebhaften Austausches. Zudem haben die Anwesenden herausgearbeitet, aus welchen Motiven die Bundesregierung 1990 die ökonomisch stark angeschlagene Sowjetunion mit gigantischen Hilfsmaßnahmen stützte und wie Drittstaaten wie Bulgarien, Ungarn und Israel auf die deutsche Wiedervereinigung blickten.
Mit seinen „329 Tagen zur deutschen Einigung“ legt Horst Teltschik ein umfassendes Quellenwerk zur Geschichte der deutschen Einigung vor. Es beinhaltet spannende Berichte von internationalen Gipfeltreffen und von den diplomatischen Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten
Weltkrieges. Mit zahlreichen Anekdoten aus den Tagen der Einigung, die eher nicht in den Geschichtsbüchern zu finden sind. „Es ist, als blicke der Leser durch das Schlüsselloch in das Büro von Bundeskanzler Kohl“, fasst Prof. Michael Gehler zusammen.
Teltschik blickt auch in die Gegenwart: „Einander zuhören und ehrlich kommunizieren“, sind seiner Ansicht nach Eigenschaften, die die Gesellschaft wieder lernen muss, um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen.