„Dieser Mann war ein Glücksfall für Europa,“ würdigt Helmut Kohl in seinen Erinnerungen den früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Im Juli 2025 wäre er 100 Jahre alt geworden. Anlass, gemeinsam mit dem Jacques Delors Centre Berlin und den Autoren Fabrice Larat und Sylvain Schirmann über den neuen Sammelband „Jacques Delors: Die Paradoxien eines europäischen Staatsmannes“ zu diskutieren.
Mit einem klaren Plan, einem integrierenden Narrativ und starker Führung gelang es Jacques Delors, der europäischen Einigung nach einer Phase von Rückschritten und wirtschaftlicher Krise neuen Schwung zu verschaffen, so Cornelia Woll, Präsidentin der Hertie School und Professor of International Political Economy, über die „Meisterleistung“ des Präsidenten der Europäischen Kommission.
Einen „Delors-Moment“ – eine einende Idee – brauche es auch heute, spannte Cornelia Woll den Bogen zur Gegenwart. Delors hatte das Ziel eines gemeinsamen europäischen Marktes formuliert, für das er die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Gruppen mobilisieren konnte. Jede dieser Gruppen, ob Sozialdemokraten und Sozialisten, Liberale und Christdemokraten oder Föderalisten und Unternehmensführer, fand sich in der Idee des gemeinsamen Binnenmarktes wieder. Delors nahm alle Verhandlungspartner ernst und baute Brücken zwischen den Positionen. So erzielte er den entscheidenden Durchbruch im europäischen Integrationsprozess.
In seine Amtszeit als Präsident der Europäischen Kommission von 1985 bis 1995 fielen grundlegende Weichenstellungen, die unser Zusammenleben in Europa bis heute prägen. Neben dem zentralen Projekt eines europäischen Binnenmarkts mit dem Wegfall der Grenzkontrollen zählen dazu die Gründung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro als gemeinsamer Währung und die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union (EU) im Vertrag von Maastricht. Unter seiner Präsidentschaft wurde das ERASMUS-Programm begonnen, der 9. Mai als Europatag eingeführt und die europäische Flagge zum offiziellen Symbol für die Gemeinschaft erhoben.
Diese Beschleunigung der europäischen Integration ist umso beeindruckender, da es unter Jacques Delors Führung gelang, die „Eurosklerose“ genannte Dekade des europapolitischen Stillstands und Rückschritts Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zu überwinden.
Das war alles andere als selbstverständlich. Dr. Fabrice Larat vom Institut national du service public (INSP), einer der Herausgeber des neuen Sammelbandes „Jacques Delors: Die Paradoxien eines europäischen Staatsmannes“, fasste in seinem Eingangsimpuls den Werdegang Jacques Delors zusammen. Der Autodidakt, der weder studiert noch die in Frankreich für Spitzenpolitiker üblichen Eliteschulen besucht hatte, kam erst spät in die Politik, war dort immer ein Außenseiter und auch nicht die erste Wahl für das Amt des Kommissionspräsidenten gewesen. Für Larat stellt dies jedoch nur ein scheinbares Paradox und letztlich sogar einen Vorteil für Delors Führungsrolle auf europäischer Ebene dar. So sei es Delors als Kommissionspräsident leichter gefallen, sich von seiner nationalen Zugehörigkeit und dem typischen Denken in nationalen Kategorien zu lösen, um das europäische Projekt authentisch zu verkörpern und zu tragen. Damit erkläre sich auch das nächste Paradox, dass Delors im europäischen Ausland sehr positiv wahrgenommen wurde. Während er in seinem Heimatland Frankreich erst nach seinem Ausscheiden aus der Politik bekannter wurde, wurde er im Ausland vielfach hoch geehrt.
Das Verhältnis von Jacques Delors zu Helmut Kohl war von großem gegenseitigem Respekt geprägt, betonte Sylvain Schirmann, Professor an der Universität Straßburg, der im Sammelband den Artikel „Jacques Delors und Helmut Kohl: eine Vertrauensbeziehung“ verfasst hat. Beide seien geprägt von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und hätten daraus den unbedingten Willen abgeleitet, für die europäische Einigung zu streiten. Ihre Ansätze hätten aber unterschiedlicher nicht sein können. Jacques Delors strebte eine Vertiefung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit an, während Helmut Kohl eine Vertiefung durch den Ausbau der europäischen Institutionen erreichen wollte. Die Idee des Binnenmarktes verband beide Ansätze: die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Binnenmarkt benötigte und schuf ein institutionelles Regelwerk.
Im zweiten Teil des Kolloquiums wurde die aktuelle Situation in den Blick genommen, welches Thema einen neuen „Delors-Moment“ für Europa auslösen könne und welche Akteure hier in Frage kämen. Neben dem Rückblick auf die Reaktionen der EU unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie die Corona-Pandemie wurde über den European Green Deal diskutiert. Als mögliche künftige Themenfelder wurden eine den globalen Süden einschließende gemeinsame Rohstoffsicherung und die durch die Dollarschwäche möglich werdenden Chancen für den Euro als potenzieller globaler Leitwährung erörtert.
Im Juli 2025 wäre Jacques Delors 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erschien ein unter der Leitung von Dr. Fabrice Larat herausgegebener Sammelband zu seinem politischen Leben und Wirken – „Jacques Delors: Die Paradoxien eines europäischen Staatsmannes“ – den Prof. Dr. Sylvain Schirmann und Dr. Fabrice Larat beim 5. Wissenschaftlichen Kolloquium der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung zur Diskussion stellten. Moderiert und kommentiert wurde das gemeinsam mit dem Jacques Delors Centre Berlin organisierte Kolloquium von der Präsidentin der Hertie School, Prof. Dr. Cornelia Woll, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung, Dr. Michael Borchard, sowie dem Co-Direktor des Jacques Delors Centre Berlin, Dr. Johannes Lindner. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe, in der zeitgeschichtliche Publikationen mit Bezug zur Kanzlerschaft Helmut Kohls vorgestellt und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Journalistinnen und Journalisten besprochen werden.