Hohe Wellen
Das Papier des damaligen Fraktionsvorsitzenden Schäuble und des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Lamers schlug hohe Wellen. Die Veröffentlichung am 1. September 1994 fiel in die „heiße Phase“ des Bundestagswahlkampfes 1994. Die Opposition kritisierte das Papier. Italien fühlte sich zurückgesetzt. Bundeskanzler Helmut Kohl war aus verschiedenen Gründen wenig begeistert.
Realistischer Blick
Nicht zu unterschätzen war der realistische Blick des Papiers. Es benannte die Krise des Maastricht-Prozesses, zeigte die Ursachen auf und brach mit einer harmonisierenden Europa-Rhetorik. Notwendig sei, so die zentrale These, dass „die Länder des festen Kerns ... erkennbar gemeinschaftsorientierter handeln als andere". Den „Kern des festen Kerns" sollten Deutschland und Frankreich bilden. So könne der ins Stocken geratene europäische Integrationsprozess „neuen Schwung" bekommen. Um Europa auch für die Demokratien Mittel- und Osteuropas zu öffnen, müssten flexiblere Wege beschritten und neue Integrationsprioritäten gesetzt werden.
Osterweiterung vorbereiten
„Wir plädierten dafür“, so Wolfgang Schäuble rückblickend in seinen Autibiographie, „Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig stattfinden zu lassen, weil wir die Osteuropäer nicht auf das schwer absehbare Ende unserer Vertiefungsdebatte vertrösten konnten und weil umgekehrt auch der Erweiterungsprozess nicht zurückgestellt werden durfte. Wir regten an, die Osterweiterung für das Jahr 2000 zu avisieren (so schlecht lagen wir nicht: Sie wurde dann in einem ersten Schritt 2004 verwirklicht).“
Mehrere Geschwindigkeiten
»Variable Geometrie« oder »mehrere Geschwindigkeiten« waren die Schlagworte für diesen Ansatz, den Einigungsprozess elastisch und zugleich kohärent voranzutreiben. Dazu schugen die Autoren vot, das Einstimmigkeitsprinzip des Maastrichter Vertrags durch ein anderes Quorum abzulösen, damit »die Länder, die in ihrer Kooperation und in der Integration weiter zu gehen willens und in der Lage sind als andere, nicht durch Vetorechte anderer Mitglieder blockiert« würden. Schäuble und Lamers wollten damit das Element der unterschiedlichen Geschwindigkeiten nutzen, um die Einigungsdynamik in Europa zu stärken.
Nur Denkanstöße?
Helmut Kohl stand diesen Überlegungen reserviert gegenüber. Italien kam ihm zu kurz. Zudem widersprach das Papier seinem Narrativ von der Überwindung der Eurosklerose" der Vorgängerregierung Helmut Schmidt. „Wir waren und bleiben Motor der Entwicklung in Europa“, so Kohl. Und schließlich bot es der Opposition in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes unnötige Angriffspunkte. Kohl reduzierte die Vorschläge auf „Denkanstöße, über die man diskutieren kann und selbstverständlich zum Teil auch unterschiedlicher Meinung sein kann.“
Europa weiterentwickeln
In der Debatte verteidigte er jedoch Wolfgang Schäuble gegen Angriffe der Opposition. „Wir wollen die politische Union in Europa. Das ist unser Ziel, und das will Wolfgang Schäuble genauso. Nicht mehr und nicht weniger steht in diesem Papier. Den Satz Adenauers „Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten der gleichen Medaille“ können Sie jeden Tag fünfmal von Wolfgang Schäuble hören. Das ist genau unsere Meinung, und sie bleibt es. Wir wollen den Vertrag von Maastricht 1996 weiterentwickeln; aber wir wollen eines nicht, dass das langsamste Schiff im Geleitzug das Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt; wir wollen, dass weiter vorangegangen wird.“ Darin waren sich Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble, wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen, absolut einig.