Vor 35 Jahren: 10 Punkte für Deutschland

Die innerdeutsche Grenze war geöffnet. Doch das war nur ein erster Schritt. Die Menschen in der DDR wollten Freiheit und ein Ende der staatlichen Willkür. Auch der Ruf nach staatlicher Einheit fand nun auf Massendemonstrationen hunderttausendfach Gehör. Niemand wusste in diesen Novembertagen genau zu sagen, wie es mit den zwei deutschen Staaten und den deutsch-deutschen Beziehungen weitergehen sollte. Nach dem politischen Erdbeben, das die kommunistische Herrschaft in Mittel- und Osteuropa erschüttert hatte, war politische Führung gefordert.

Rückhalt durch US-Präsident George Bush

In dieser Situation war es für Bundeskanzler Helmut Kohl hilfreich zu wissen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, das Verlangen der Deutschen nach Einheit und Freiheit ohne Vorbehalt unterstützte. „Ich hatte George Bush am 17. November telefonisch die Situation in der DDR geschildert“, so Kohl, „und ihn von meiner Absicht unterrichtet, die deutschlandpolitischen Vorstellungen der Bundesregierung in einem Katalog zusammenzufassen.“ (vgl.: Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 157)

Horst Teltschik entwirft Leitlinien

Am Abend des 23. November nahm Kohls Vorhaben, eine Leitlinie für den Weg zur Einheit vorzulegen, erste Konturen an. Er setzte eine Arbeitsgruppe unter Leitung seines außen- und sicherheitspolitischen Beraters, Horst Teltschik, ein. Sie hatte den Auftrag, die nationale und internationale Lage zu analysieren, auch unter Berücksichtigung des SED-Vorschlags einer „Vertragsgemeinschaft“ (vgl.: Horst Teltschik, Die 329 Tage zur deutschen Einigung, Göttingen 2024, S. 42ff). Dabei entstand die Idee, die zu erarbeitende Leitlinie auf griffige „Zehn Punkte“ zusammenzufassen (vgl.: Helmut Kohl, ebd., S. 159ff;).

Ziel – die staatliche Einheit Deutschlands

Die von Kohl am Wochenende des 25./26. November überarbeiteten Punkte beinhalteten unter anderem ein Sofortprogramm für ungehinderten Reiseverkehr, das Angebot für eine Zusammenarbeit in allen Bereichen, die den Menschen zugutekommen, die Beseitigung des Machtmonopols der SED, grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems, freie Wahlen, Einbettung der innerdeutschen Beziehungen in den gesamteuropäischen Einigungsprozess, Unterstützung des Abrüstungsprozesses sowie letztlich das große Ziel, die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands.

Der Kanzler ergreift die Initiative

Der Kanzler nutzte zwei Tage später, am 28. November 1989, die Generaldebatte zum Bundeshaushalt 1990 im Deutschen Bundestag dazu, seinen Plan zur deutschen Einheit vorzulegen. Bis dahin sollte „Stillschweigen gewahrt“ bleiben. „Hätte ich“, so Kohl später, „die Zehn Punkte innerhalb der Koalition oder gar mit den Verbündeten abgestimmt, dann wären sie am Ende völlig zerredet worden. Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger. Es war der Moment, in dem der deutsche Bundeskanzler sich die Initiative in Richtung deutscher Einheit nicht mehr aus der Hand nehmen lassen durfte.“ (Helmut Kohl, ebd., S. 167)

Klima des Vertrauens schaffen

Helmut Kohl war es besonders wichtig, den Einigungsprozess in die internationale Lage einzubetten und zugleich Europa zu stärken und zu einen. Seine Rede im Deutschen Bundestag schloss er mit den Worten: „Die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-Ost-Beziehungen — wie ich sie in zehn Punkten erläuterte — ermöglicht eine organische Entwicklung, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt und — dies ist unser Ziel — einer friedlichen und freiheitlichen Entwicklung in Europa den Weg bahnt. Nur miteinander und in einem Klima des wechselseitigen Vertrauens können wir die Teilung Europas, die immer auch die Teilung Deutschlands ist, friedlich überwinden.“ Für Helmut Kohl war klar: das einige Deutschland werde ein europäisches Deutschland sein. (vgl.: Helmut Kohl, Die deutsche Einheit, Reden und Gespräche, Bergisch Gladbach 1992, S. 168.)