Vor 35 Jahren: Beide deutschen Staaten schließen sich zu einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zusammen

„So etwas hatte es noch nie gegeben: einen Vertrag, mit dem sich ein Land verpflichtet, seine Wirtschaftsordnung gleichsam über Nacht völlig zu ändern – von einer zentralisierten Kommandowirtschaft zu einer Sozialen Marktwirtschaft“, erinnerte sich Helmut Kohl in seinem Buch „Ich wollte Deutschlands Einheit."

Am 1. Juli 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft. Sie regelte die Einführung der D-Mark als alleiniges Zahlungsmittel sowie die Übernahme der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialordnung in der DDR. Es war der erste Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und der demokratisch gewählten DDR-Regierung – der erste formale Schritt zur deutschen Einheit.

Unsichere Datenlage und Täuschungsmanöver

Die Verhandlungen gestalteten sich äußerst schwierig, berichtete Kohl, „weil die DDR keine gesicherten Daten vorlegen konnte und so der benötigte Finanzbeitrag der Bundesrepublik für den Aufbau im östlichen Teil Deutschlands praktisch nicht zu beziffern war“. Die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR wurde absolut überschätzt. Hinzu kam die veränderte Weltlage. Die Produkte der „volkseigenen Betriebe“ waren auf dem Weltmarkt nur schwer abzusetzen. Der osteuropäische und der sowjetische Markt, in den bis dahin viele DDR-Produkte exportiert worden waren, fiel aufgrund der politischen Umbruchsituation als sicherer Absatzmarkt weg.

In der Annahme, die DDR sei die zehntgrößte Industrienation der Erde, ging man zunächst von einem Netto-Industrievermögen von 1.200 Milliarden D-Mark aus. „Ja wir glaubten sogar“, so Kohl in seinen „Erinnerungen“, „wir könnten der DDR-Bevölkerung Anteilsscheine ausgeben. Im Laufe des Jahres zeigte sich, dass es immer weniger wurde. Wenige Wochen später ging man von 600 Milliarden D-Mark aus. Tatsächlich aber beendete die Treuhandanstalt ihre Arbeit 1994 mit einem Defizit von 250 Milliarden D-Mark.“

Die Gründe für die Fehlannahmen sah Kohl in einer gezielten Desinformationskampagne. „Wir wussten schlicht und einfach zu wenig. Was wir erfuhren, waren letztendlich die Propagandalügen, die von Desinformationsspezialisten des Staatssicherheitsdienstes und der SED überaus geschickt verbreitet wurden. Alles in allem ist dem DDR-Regime eines der größten Täuschungsmanöver aller Zeiten gelungen“.

Zukunftschancen

In der zentralen Frage des Umtauschkurses hatten die beiden Regierungen zwar einen Kompromiss ausgehandelt, gestaffelt 1:1 bis 1:2. Schnell machte sich allerdings eine insbesondere von der PDS gesteuerte Stimmung breit gegen den „wirtschaftlichen Ausverkauf der DDR an die BRD“. Im Deutschen Bundestag hielt Helmut Kohl noch vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages dagegen: „Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“, so der Kanzler, werde für die Menschen in Deutschland die Einheit in wichtigen Bereichen ihres täglichen Lebens erlebbare Wirklichkeit. „Unseren Landsleuten in der DDR eröffnet sich damit die Chance auf eine rasche, durchgreifende Besserung ihrer Lebensbedingungen.“ Der Staatsvertrag sei Ausdruck der Solidarität unter den Deutschen. Er dokumentiere den Willen aller Deutschen, in eine gemeinsame Zukunft zu gehen.

Massenexodus und Zeitdruck

Helmut Kohl war sich durchaus bewusst, „dass der Weg schwierig sein wird“. Gleichzeitig herrschte enormer Zeitdruck. Viele Ostdeutsche machten sich auf in den Westen. Die Kapazitäten der Notaufnahmelager waren schnell erschöpft. In der DDR wurde die bereits darniederliegende Wirtschaft durch den Massenexodus weiter destabilisiert. Für die Bundesrepublik bedeuteten die Ankommenden eine beträchtliche finanzielle und soziale Belastung. Daraus folgerte Kohl in seiner Regierungserklärung kurz vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages: „Wer jetzt behauptet, man hätte sich doch mehr Zeit lassen können, der verkennt die Realitäten in Deutschland, und er verdrängt die Erfahrungen der letzten Monate. Es sind die Menschen in der DDR, die das Tempo der Entwicklung bestimmt haben und im Übrigen weiter bestimmen werden.“

„Blühende Landschaften“

Durch die Währungsunion wollte Kohl den Menschen in der DDR auch eine Perspektive eröffnen, in der Heimat zu bleiben. In seiner bereits oben zitierten Regierungserklärung erklärte er: „Nur die rasche Verwirklichung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance, dass Mecklenburg/Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften sein werden, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Damit war der Begriff gefallen, der ihm bis heute von Kritikern vorgeworfen wird.

In seinen „Erinnerungen“ ging Kohl darauf ein: „Mir ist später vorgehalten worden, ich hätte den Menschen in den neuen Bundesländern Sand in die Augen gestreut, als ich ihnen blühende Landschaften in Aussicht stellte. Viele die mich deshalb kritisiert haben, waren verblüfft, als ich 1994 ankündigte, dass ich im Bundestagswahlkampf überall dort auftreten werde, wo ich schon 1990 zu den Menschen gesprochen hatte.“

Helmut Kohl gab zu: „Es stimmt, ich habe mich im Blick auf die blühenden Landschaften im Zeitmaß geirrt. Aber in der Hauptsache habe ich mich nicht geirrt: wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt und das heutige Erscheinungsbild mit dem von 1990 vergleicht, der wird nicht bestreiten können, dass wir mit dem Aufbau Ost schon weit vorangekommen sind.“