Vor 35 Jahren: "Paneuropäisches Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze

Als der 20-jährige Chris Gueffroy im Februar 1989 versuchte, von Ost- nach West-Berlin zu flüchten, wurde er von DDR-Grenzsoldaten erschossen. Die Systemgrenze zwischen Ost und West war in Deutschland immer noch ein tödliches Hindernis, während zur gleichen Zeit in Ungarn der „Eiserne Vorhang“ Rost ansetzte. Der Warndraht der Grenzsicherungsanlage an der ungarisch-österreichischen Grenze war in die Jahre gekommen und immer mehr verrostete Drähte mussten ausgetauscht werden. Da die Sowjetunion keinen Draht liefern konnte, musste dieser mit Devisen im Westen gekauft werden. Die aus den 60er Jahren stammende Anlage galt zudem als unzuverlässig und verursachte jährlich Tausende von Fehlalarmen. Da Ungarn seinen Bürgerinnen und Bürgern bereits 1988 Reisefreiheit gewährt hatte, sah der als reformkommunistisch und pragmatisch geltende ungarische Ministerpräsident Miklós Németh keine Notwendigkeit mehr für eine so aufwendig gesicherte Grenze. Er beschloss Anfang 1989, die Grenzanlagen abzubauen. Im Mai 1989 begannen ungarische Grenzsoldaten mit der Demontage. Sie kamen so schnell voran, dass am 27. Juni die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, mit großer Geste einen eigens wieder errichteten Grenzzaun durchschneiden mussten.

 

Der Abbau der Grenzanlagen machte Ungarn im Sommer 1989 zu einem besonders attraktiven Reiseziel für Ostdeutsche. Schätzungsweise 200.000 DDR-Bürgerinnen und Bürger reisten in diesem Jahr in den sozialistischen Bruderstaat, viele mit dem Ziel der Ausreise in den Westen. Am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, musste die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest wegen Überfüllung geschlossen werden. Tausende wurde daraufhin in Notlagern des Ungarischen Malteser Caritas-Dienstes versorgt. Doch nicht nur dort tauchten plötzlich Einladungen zu einem „Paneuropäischen Picknick“ nahe der ungarischen Grenzstadt Sopron am 19. August auf. Schirmherren der Veranstaltung waren der CSU-Europaabgeordnete und Sohn des letzten österreichisch-ungarischen Monarchen, Otto Habsburg, sowie der ungarische Staatsminister Imre Pozsgay. Geplant war neben Tanzdarbietungen und Vorträgen auch eine „einmalige und okkasionelle Grenzüberschreitung“ für einen Besuch im benachbarten österreichischen St. Margarethen. Ab 16.30 Uhr hieß es dann „Baue ab und nimm mit“, inklusive Urkunde für das selbst gepflückte Stück des ehemaligen Eisernen Vorhangs.

 

Die ungarischen Grenzsoldaten wunderten sich zwar über die plötzlich auftauchenden Picknick-Gäste, leisteten aber keinen ernsthaften Widerstand, als die ersten das Tor aufstießen und über den Waldweg Richtung Österreich zogen. Am Ende des Tages hatten über 600 Ostdeutsche eine Bewegung in Gang gesetzt, die nicht mehr aufzuhalten war.

 

 

Am 10. September folgte die offizielle Grenzöffnung. Ungar hatte damit den „ersten Stein aus der Mauer geschlagen“, wie es Bundeskanzler Helmut Kohl gut ein Jahr später bei der Feier der Wiedervereinigung formulierte.