tldr: Helmut Kohl ehrt in seiner Rede zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 die Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime. Er betont ihre Opfer für Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit und verbindet ihr Vermächtnis mit den Werten des Rechtsstaats und der Demokratie. Kohl ruft dazu auf, diese Werte in der heutigen Gesellschaft zu bewahren.
Bundeskanzler Helmut Kohl bei der zentralen Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 im Ehrenhof Stauffenbergstraße zu Berlin:
I.
Herr Bundespräsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir ehren heute jene Männer und Frauen, die vor fünfzig Jahren den Versuch unternahmen, in unserem Vaterland die Herrschaft des Verbrechens zu beseitigen. Sie waren bereit, für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrheit ihr Leben aufzuopfern. Sie wollten die „Majestät des Rechtes“ wiederherstellen. Es war ein Aufstand des Gewissens.
Wir verneigen uns am heutigen Tag vor allem vor denjenigen, die den Umsturzversuch des 20. Juli vorbereitet, geplant und gewagt haben: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, General Friedrich Olbricht, Generaloberst Ludwig Beck, Helmuth James Graf von Moltke, Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg, Adam von Trott zu Solz, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Carl Friedrich Goerdeler, Julius Leber, Wilhelm Leuschner, Joseph Wirmer – um stellvertretend für viele nur einige Namen zu nennen.
Wir wissen heute von mehr als 5000 Verhaftungen und über 200 Hinrichtungen im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944. Mit der sogenannten „Sippenhaft“ wurden Ehefrauen eingesperrt, Mütter von ihren Kindern getrennt, Familien brutal auseinandergerissen. Das unermessliche Leid konnte nur mit großer innerer Kraft ertragen werden. Auch daran denken wir heute mit besonderem Respekt und besonderer Dankbarkeit. Wir ehren die Opfer der „Weißen Rose“ um die Geschwister Scholl, wir gedenken der Tat eines Einzelnen wie des Johann Georg Elser. Wir erinnern uns an das Martyrium des Domprobstes Bernhard Lichtenberg, wir werden das Leiden und Sterben eines Rudolf Breitscheid nicht vergessen.
Schon bald nach dem gescheiterten Attentat wurde der 20. Juli zum Inbegriff für den deutschen Widerstand gegen die nationalsozialistische Barbarei. Am deutlichsten erkannte der Diktator selbst diese Bedeutung des Umsturzversuchs. Er setzte alles daran, die Tat Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer als „Komplott einer ganz kleinen Clique ehrgeiziger und gewissenloser Offiziere“ zu diffamieren.
Wir wissen und sollten es aussprechen: Noch lange wirkte das Gift dieser Propagandalüge nach. Ganz im Sinne ihres Urhebers wurde sie dazu benutzt, dem militärischen Widerstand die Lauterkeit seiner Motive und Absichten abzusprechen. Die Wahrheit ist jedoch, dass der 20. Juli 1944 Höhepunkt und Endpunkt einer Entwicklung war, die seit Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 Männer und Frauen aus unterschiedlichsten politischen Richtungen im Kampf gegen die Herrschaft des Verbrechens zusammengeführt hatte.
Beteiligt waren Menschen aus allen Schichten, aus der Mitte des Volkes: Bürgerliche und Adlige, Gewerkschafter und Offiziere, Arbeiter und Diplomaten, Gelehrte und Geistliche. Es waren nicht viele, aber es waren die besten.
II.
Menschliche Größe und unvergleichliche Würde gewinnt Widerstand vor allem dort, wo er als freie Entscheidung ein Aufstand des Gewissens ist. Dies gilt ganz gewiss für die Männer und Frauen des 20. Juli. Sie handelten nicht auf Weisung. Es gab keine Massenbewegung, von der sie sich hätten mitreißen lassen können. Niemand nahm ihnen den Entschluss zum existentiellen Wagnis ab. Sie berieten sich mit den Freunden und Gefährten, aber die letzte Entscheidung musste jeder von ihnen für sich selbst treffen. Im tiefsten ging es ihnen um einen Akt sittlicher Selbstbehauptung. Gerade dadurch konnte der Umsturzversuch heute vor fünfzig Jahren eine so eminente politische Bedeutung gewinnen.
Dieses Datum wird – so hoffe ich – für immer daran erinnern, dass die Würde jedes einzelnen Menschen aller staatlichen Gewalt vorausgeht und ihr übergeordnet ist. Sie ist ein absoluter Wert, der keiner Begründung bedarf. Die Politik kann und darf über diesen Wert nicht verfügen, sondern hat ihn bedingungslos zu achten. Nur unter der Herrschaft des Rechts ist die Würde des Menschen wirksam geschützt. Diese Überzeugung ist das wichtigste Vermächtnis des 20. Juli 1944.
III.
Was die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes miteinander verband, war die gemeinsame Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime. Widerstand bestimmt sich zunächst durch den Gegner. Dafür verdient er unser aller Achtung. Vorbildcharakter erhält er aber erst durch die politisch-moralische Zielsetzung.
Um die bleibende Bedeutung des deutschen Widerstandes für Gegenwart und Zukunft ganz begreifen zu können, dürfen wir uns daher nicht auf die Frage beschränken, wogegen er sich gerichtet hat. Wir müssen uns fragen, wofür die an ihm Beteiligten eingetreten sind. In dem Wofür liegt das Vermächtnis, auf das wir uns im vereinten Deutschland gemeinsam beziehen. Die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit und damit die Rückkehr zu ethischen Werten und Maßstäben – dies war das oberste Ziel der allermeisten, die sich gegen das nationalsozialistische Regime erhoben.
Die Beseitigung von Unrecht und Willkürherrschaft war der notwendige Schritt auf dem Weg dorthin. Von Stauffenberg ist der Satz überliefert: „Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt ...“ So wie er dachten in diesem entscheidenden Punkt all jene Regimegegner, deren Andenken wir heute ehren. Eine Reihe der übrigen innen- und außenpolitischen Vorstellungen in den verschiedenen Widerstandskreisen waren zeitbedingt. Es ist wohlfeil, aus der Sicht von heute, 50 Jahre danach, zu bemängeln, dass nicht allen Repräsentanten des 20. Juli eine Staats- und Gesellschaftsordnung vorschwebte, wie sie später in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht worden ist.
So mancher von ihnen, auch das ist wahr, hatte sich anfangs durch das Scheitern der Republik und durch vordergründige Erfolge der Diktatur blenden lassen. Es mindert aber keineswegs den Rang dieser Beteiligten, dass sie später ihre Irrtümer einsahen, ja Verstrickung in Unrecht und Schuld eingestanden.
In Deutschland besteht heute ein breiter Konsens darüber, dass Rechtsstaat und Demokratie untrennbar zusammengehören. Besonders eindrucksvoll hat dies 1946 Gustav Radbruch, Reichsjustizminister in der Weimarer Republik, zum Ausdruck gebracht: „Demokratie ist gewiss ein preiswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, dass nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“
IV.
Wir können uns aus der zeitlichen Distanz von fünfzig Jahren kaum mehr vorstellen, welche inneren Kämpfe vor allem die am 20. Juli beteiligten Offiziere auszutragen hatten. Sie standen in der militärischen Tradition strenger Gehorsamsbindung und mussten sich erst in Diskussionen zu der Erkenntnis durchringen, dass der soldatische Eid dort eine Grenze hat, wo Wissen, Gewissen und Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten.
Mit zunehmender Deutlichkeit sahen sie, dass ihr Patriotismus ihnen geradezu gebot, Deutschland von der Gewaltherrschaft zu befreien. In der Tat: Wie kann jemand sein Vaterland lieben und gleichzeitig mitansehen, wie es von Verbrechern zugrunde gerichtet wird? Vielleicht war es diese Frage, die Generaloberst Ludwig Beck bewegte, als er einmal tief erschrocken über Hitler notierte: „Dieser Mensch hat ja gar kein Vaterland!“
Die gleiche Gesinnung spricht aus den Worten, mit denen Generalmajor Henning von Tresckow einen Tag nach dem Attentat von einem Freund Abschied nahm: „Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.“ Im Diktator sah Tresckow nicht nur den „Erzfeind Deutschlands“, sondern auch den „Erzfeind der Welt“. Ebenso wie für seine Freunde und Gefährten bildeten für ihn patriotische Gesinnung und die Treue zu universellen ethischen Werten eine untrennbare Einheit.
Die Gegnerschaft des deutschen Widerstandes bezog sich deshalb nicht nur auf die Diktatur im Innern. Auch seine außenpolitischen Überlegungen waren getragen von dem Grundgedanken einer friedlichen und gerechten Ordnung unter den Völkern. In diesem Geiste forderte Graf Moltke im Blick auf eine europäische Nachkriegsordnung das „Ende der Machtpolitik, das Ende des Nationalismus, das Ende des Rassegedankens, das Ende der Gewalt des Staates über den Einzelnen“.
Auch solche Gedanken waren, wie Theodor Heuss bereits vor vierzig Jahren sagte, „ein Geschenk an die deutsche Zukunft“. Rudolf Pechel, der das Konzentrationslager überlebt hatte, bezeichnete 1951 in Den Haag den deutschen Widerstand „als Teil des Kampfes gegen den Totalitarismus“. Die Widerstandsbewegungen in den verschiedenen Ländern könnten und sollten für die
„Schaffung einer neuen Form des Zusammenlebens der Nationen“ Vorkämpfer sein.
V.
Die zentrale Aufgabe der deutschen Nachkriegszeit war die Errichtung eines neuen Staates, der sich das Unrecht und die Verbrechen der Vergangenheit nicht mehr zuschulden kommen lassen sollte. Dies schloss die unbedingte Vermeidung eines neuen Krieges ein.
Nicht erst das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 hatte gezeigt, dass Hitlers Herrschaft zwangsläufig in die Katastrophe führen musste. Auch die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes standen vor der Frage, welche inneren und äußeren Voraussetzungen für einen stabilen Frieden erfüllt sein mussten.
So wie für die Widerstandskämpfer Patriotismus und Treue zu universellen ethischen Werten eine untrennbare Einheit bildeten, so galt dies auch für ihre Vorstellungen von der Stellung und Rolle Deutschlands in der Nachkriegsordnung. Dies bedeutete, dass für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung in Deutschland die Herstellung der deutschen Einheit eine unerlässliche Voraussetzung war. 1952 formulierte Theodor Heuss in einer Ansprache: „Der Widerstand hat auf seine Art, in seiner Form, an die Voraussetzung des innerlich einigen Deutschland gemahnt. Es ist unsere schicksalhafte Aufgabe, sie wieder zu gewinnen.“
VI.
Lange haben viele Menschen auf dieser Welt daran gezweifelt, dass diese Aufgabe jemals gelöst werden könnte. Heute wissen wir, dass die friedliche Revolution von 1989 der Schlüssel für die Überwindung der Teilung war. Freiheit und Einheit unseres Vaterlandes konnten errungen werden. In dieser historischen Stunde haben unsere Nachbarn und Partner durch ihr Vertrauen und durch ihre helfende Hand zu unserer friedlichen Wiedervereinigung beigetragen. Ihnen allen gilt unser bleibender Dank. Und wir sollten dies gerade heute sagen: Die helfende Hand, die sich uns entgegenstreckte, war zuallererst auch ein Ergebnis der damaligen Verständigungsbereitschaft der deutschen Widerstandskämpfer.
Heute, nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Teilung, ist es Aufgabe des vereinten Deutschland, das politische Erbe des deutschen Widerstandes zu bewahren und lebendig zu erhalten. Der Widerstand hat durch sein Handeln dafür gesorgt, dass Deutschland wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen wurde. Der deutsche Widerstand zeigt uns auch, dass Patriotismus und Treue zu universellen ethischen Werten eine untrennbare Einheit bilden.
VII.
Fünfzig Jahre nach dem 20. Juli 1944 wird sich niemand mit letzter Sicherheit vorstellen können, welche inneren Kämpfe die damaligen Widerstandskämpfer durchlitten. Die Entscheidung gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat war keine einfache, sondern ein existentielles Wagnis. Die Männer und Frauen des 20. Juli haben uns ein Vermächtnis hinterlassen, das uns heute verpflichtet. Ihr Handeln zeigt, dass die Würde jedes einzelnen Menschen aller staatlichen Gewalt vorausgeht und ihr übergeordnet ist. Dies ist ein Wert, den es unbedingt zu bewahren gilt.
Möge das Andenken an die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes uns stets daran erinnern, dass nur unter der Herrschaft des Rechts die Würde des Menschen wirksam geschützt ist. Ihre Tat war ein Aufstand des Gewissens und zeigt uns, dass die Würde des Menschen und der Rechtsstaat untrennbar miteinander verbunden sind. In diesem Geiste wollen wir auch künftig die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde bewahren und fördern.
(Quelle Bulletin 68-94 der Bundesregierung)