„Trauer, mahnende Erinnerung und Versöhnung“ – diesen Dreiklang setzte Helmut Kohl in seiner Ansprache zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.
„Versöhnung mit den Hinterbliebenen und den Nachkommen der Opfer“ sei nur möglich, erklärte der Bundeskanzler, „wenn wir unsere Geschichte annehmen, so wie sie wirklich war, wenn wir uns als Deutsche bekennen: zu unserer Scham, zu unserer Verantwortung vor der Geschichte. Und wenn wir gemeinsam die Notwendigkeit erkennen, allen Bestrebungen entgegenzutreten, die die Freiheit und die Würde des Menschen mit Füßen treten.“
Tag der Befreiung
Bereits 17 Tage vor Richard von Weizsäckers berühmter Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa war es Bundeskanzler Helmut Kohl, der den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ bezeichnete. Mit gesamtdeutschem Blick erinnerte er darüber hinaus daran, dass die Menschen in der DDR nach wie vor den Zwängen einer Diktatur ausgesetzt waren.
„Der Zusammenbruch der NS-Diktatur am 8. Mai 1945 wurde für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Nicht allen aber verhieß er, wie es sich rasch erwies, neue Freiheit. Wir – im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik Deutschland – haben uns nach den Erfahrungen in der Hitler-Diktatur darauf festgelegt, dass der einzelne Mensch gerade in den zentralen Fragen der Politik über und für sich selbst bestimmen muss.“
Verantwortung der Geschichte annehmen
„Das nationalsozialistische Deutschland“, so Kohl, „versetzte die Welt in Angst und Schrecken. Diese Zeit des Mordens, ja des Völkermordes ist das dunkelste, das schmerzlichste Kapitel in der deutschen Geschichte. Es gehört zu den vordringlichen Aufgaben unseres Landes, Wissen darüber zu vermitteln und das Bewusstsein für das ganze Ausmaß, für die Dimension dieser geschichtlichen Erfahrung und Last wachzuhalten.“ Die Verbrechen, die Verhöhnung und Zerstörung aller sittlichen Normen, die systematische Unmenschlichkeit der NS-Diktatur dürften und wollten die Deutschen niemals vergessen, betonte der Bundeskanzler. Weil die Gründer der Bundesrepublik Deutschland die Kraft hatten, die Verantwortung der Geschichte anzunehmen, haben sie den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurückgewonnen. Die richtige Schlussfolgerung sei gewesen, sich „unwiderruflich an die Wertegemeinschaft der freiheitlichen Demokratien des Westens“ zu binden und mit ihnen dauerhaft verbündet zu bleiben.
Mahnzeichen nicht übersehen
Die gewissenlose Brutalität der Nationalsozialisten war offen erkennbar. Deshalb fragte Kohl in seiner Ansprache: „Weshalb blieben so viele Menschen gleichgültig, hörten nicht hin, wollten nichts wahrhaben, als die späteren Gewaltherrscher für ihr menschenverachtendes Programm zuerst noch in den Hinterzimmern und dann auf Straßen und Plätzen warben? Was die Nationalsozialisten vorhatten, zeigte sich nicht erst am 9. November 1938, als 35.000 jüdische Mitbürger in Konzentrationslager verschleppt wurden. Warum war es nicht möglich, Einhalt zu gebieten, als die Zeichen der nationalsozialistischen Tyrannei nicht mehr übersehen werden konnten? Als man Bücher verbrannte, die wir zu den großen Kulturgütern unseres Jahrhunderts zählen. Als man Synagogen in Brand steckte. Als man jüdische Geschäfte demolierte. Als man jüdischen Mitbürgern verwehrte, auf Parkbänken Platz zu nehmen. Das waren Mahnzeichen.“
Wachsam bleiben
Kohl mahnte, auch in der Gegenwart wachsam und sensibel zu bleiben gegenüber jenen Einstellungen und Haltungen, „die totalitäre Herrschaft den Weg bereiten können: der Gläubigkeit gegenüber Ideologien, die vorgeben, das Ziel der Geschichte zu kennen, die das Paradies auf Erden versprechen; dem Verzicht auf den Gebrauch verantworteter Freiheit; der Gleichgültigkeit gegenüber Verletzungen der Menschenwürde, der Menschenrechte und des Friedensgebotes. Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens.“
Aussöhnung suchen
„Wir haben die Lektion der Geschichte, die Lektion der Erfahrung dieses Jahrhunderts gelernt“, bekräftigte der Bundeskanzler damals. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.“
Kohl verwies auf die Aussöhnung und Freundschaft der Bundesrepublik zu Frankreich. Entsprechend sollte auch die Beziehung zu Polen entwickelt werden. Schließlich würdigte Helmut Kohl besonders die Versöhnung mit dem jüdischen Volk und dem Staate Israel: Das sei Männern und Frauen wie Nahum Goldmann und David Ben Gurion, zu verdanken, die im Blick auf die Zukunft „die Stärke des Hasses mit der Kraft der Menschlichkeit“ überwanden.
Leiden und Sterben, Schmerz und Tränen könne man nicht wiedergutmachen. Dafür gäbe es nur die gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Trauer und den gemeinsamen Willen zum Miteinander in einer friedlicheren Welt. Daher sei es wichtig, „der heranwachsenden Generation vor Augen zu führen, dass Toleranz, dass Aufgeschlossenheit für den Nächsten unersetzliche Tugenden sind, ohne die kein Staatswesen, auch nicht das unsere, gedeihen kann. Uns in diesem Wettstreit der Menschlichkeit zu üben ist die eindeutigste Antwort auf das Versagen in einer Epoche, die von Machtmissbrauch und Intoleranz bestimmt war.“
Die vergessene Rede?
Zu Recht bedauert Eduard Ackermann, Kohls Medienberater, die verhaltene Resonanz auf diese „bedeutsame Rede, in der Kohl richtungsweisende Sätze über die Bewältigung unserer Vergangenheit formulierte“. In seiner Autobiografie „Mit feinem Gehör“ schreibt Ackermann, die Rede des Bundeskanzlers hätte im Ausland größere Aufmerksamkeit als in Deutschland selbst gefunden, gehöre aber „zu den bedeutendsten Reden, die Kohl während seiner Kanzlerschaft“ gehalten habe. Sie basiere auf der Grundüberzeugung: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.
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